Chiwa - Ichan Qal'а
Ichan Qala von Chiwa: Struktur, Geschichte und architektonisches Erbe einer zentralasiatischen Oasenstadt
Die ummauerte Altstadt Ichan Qal‘a ist das eindrucksvollste und am besten erhaltene Beispiel vormoderner Stadtstruktur in Usbekistan und ganz Zentralasien. Als historischer Stadtkern von Chiwa verkörpert sie auf einzigartige Weise das Zusammenspiel von Verteidigungsarchitektur, urbaner Organisation und monumental-repräsentativer Baukunst. Mit ihrer dichten Struktur, der vollständigen Ummauerung und der Konzentration historischer Denkmäler bildet Ichan Qal‘a ein in sich geschlossenes städtebauliches Ensemble, das in seiner historischen Authentizität von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde.
Stadtstruktur und Ausdehnung
Die Altstadt ist annähernd rechteckig angelegt und streng entlang der Himmelsrichtungen orientiert. Ihre Längsachse erstreckt sich über etwa 650 Meter von Norden nach Süden, während die Breite rund 400 Meter beträgt. Die so umschlossene Fläche von 26 Hektar ist vollständig von einer imposanten Lehmziegelmauer umgeben. Im Gegensatz zur deutlich größeren Außenstadt Dishan Qal‘a liegt das Gelände von Ichan Qal‘a etwa drei bis sechs Meter erhöht – ein geologischer und archäologischer Befund, der durch mächtige, kulturell aufgeladene Sedimentschichten belegt ist. Diese Erhöhung geht zum Teil auf natürlich entstandene Sandhügel – sogenannte Barchane – zurück, die in Legenden als Ursprung der Stadtgründung gelten.
Die Hauptstraße von Ichan Qal‘a verläuft in ost-westlicher Richtung und verbindet das östliche Tor Palvan-Darwaza mit dem westlichen Haupttor Ata-Darwaza. Abgesehen von dieser Achse ist das Straßennetz ein verwinkeltes Geflecht aus Gassen, Sackgassen und engen Durchlässen, das die organisch gewachsene Struktur einer vormodernen Oasenstadt widerspiegelt.
Die Stadtmauer: Konstruktion und Verteidigungssystem
Die Stadtmauer von Ichan Qal‘a ist in ihrer Gesamtheit erhalten und bildet eine geschlossene, leicht ovale Struktur. Ihre durchschnittliche Höhe beträgt 7 bis 8 Meter, wobei sie im unteren Bereich eine gewaltige Dicke von bis zu 6 Metern erreicht. Auf der Innenseite fällt die Mauer nahezu senkrecht ab, während sie an der Außenseite in einem ausgeprägten Neigungswinkel errichtet wurde, um Erdabrutschungen zu verhindern und die Statik der Struktur zu sichern.
Rund 30 halbkreisförmige Bastionstürme sind entlang der Mauer in regelmäßigen Abständen eingegliedert. Diese Türme ragen leicht über das Mauerprofil hinaus und sind auf den Flanken mit Schießscharten versehen, um Flankenschutz an den Zugängen zu gewährleisten. Bemerkenswert ist, dass sie an der Vorderseite keine Öffnungen besitzen – eine gezielte Maßnahme zur Vermeidung direkter Angriffe durch Belagerungstruppen.
Im Innern verläuft auf einer Höhe von rund sechs bis sieben Metern ein Wehrgang für Verteidiger, der durch eine schmale, zwei Meter hohe Zinnenbrüstung mit Schießscharten geschützt ist. Die Schießscharten sind sowohl dreieckig als auch rechteckig gestaltet, was gezieltes Schießen aus unterschiedlichen Winkeln ermöglichte.
Baumaterialien und historische Schichtungen
Die Mauern bestehen aus mehreren Bauschichten, die verschiedene Epochen der Stadtgeschichte dokumentieren. Der unterste Teil ist aus standardisierten Lehmziegeln gefertigt (Größen zwischen 36 × 36 × 9 cm und 39 × 39 × 10 cm), die in horizontalen Reihen verlegt und mit Pakhsa – gestampftem Lehm – verbunden wurden. Darüber folgen großflächige, quadratische Lehmplatten von bis zu 60 cm Breite, die offenbar direkt in feuchtem Zustand in die Mauer eingebracht wurden. Diese Bauweise ist äußerst ungewöhnlich und wird auf eine späte Bauphase datiert, möglicherweise in das 19. Jahrhundert unter Muhammad-Amin-Inak, der Teile der Stadtmauer umfassend restaurieren ließ.
In tiefer liegenden, freigelegten Mauerabschnitten finden sich Spuren deutlich älterer Bauarten, die sich typologisch bis in das 5. bis 8. Jahrhundert n. Chr. zurückverfolgen lassen. Diese archaischen Mauertechniken stehen in enger Verbindung zur Festungsarchitektur vormongolischer Zeit und belegen die lange und kontinuierliche Besiedlung des Gebiets.
Der Wassergraben und strategische Topographie
Ein Graben umgab die Stadtmauer ursprünglich vollständig und bildete ein zusätzliches Hindernis gegen feindliche Angriffe. Heute ist er nur noch im südlichen Abschnitt deutlich sichtbar. Die Stadtmauer wurde auf einer erhöhten Berme errichtet, die an mehreren Stellen stark geneigt ist oder durch jüngere Nutzungen – etwa den städtischen Friedhof – überbaut wurde. Die Anlage dieser Erdstruktur folgt einem ausgeklügelten Verteidigungskonzept, das Höhenvorteile, Sichtachsen und Zugangskontrollen geschickt kombinierte.
Die vier Stadttore – Architektur, Funktion und Symbolik
Ichan Qal‘a besitzt vier monumentale Stadttore, die jeweils auf eine Himmelsrichtung ausgerichtet sind:
- Baghcha-Darwaza (Nordtor), auch Urgench-Tor genannt
- Ata-Darwaza (Westtor), das Haupttor der Stadt
- Palvan-Darwaza (Osttor), früher Khazarasp-Tor
- Tash-Darwaza (Südtor), auch Kunya-Bazar-Tor genannt
Jedes dieser Tore war integraler Bestandteil des Verteidigungssystems und zugleich ein Ort des Austauschs, der Kontrolle und der Repräsentation. Die Tore bestanden meist aus gewölbten Passagen mit seitlichen Kammern, in denen Wächter, Zollbeamte oder auch Richter untergebracht waren. Mehrere dieser Räume dienten auch als Hafträume oder Gerichtssäle.
In ihrer symbolischen Dimension fungierten die Stadttore als Visitenkarten der Stadt. Sie waren reich mit Fliesen, kalligrafischen Inschriften und ornamentalen Dekoren geschmückt – ein Ausdruck der Macht des Khans, aber auch der religiösen Identität der Stadt. Besonders Palvan-Darwaza und Ata-Darwaza galten als monumentale Zeugnisse herrschaftlicher Repräsentation.
Archäologische Besonderheiten und vormongolisches Erbe
Bei Ausgrabungen östlich des Nordtors kamen Fragmente einer älteren Festungsmauer mit polygonalen Türmen zutage. Diese Türme ähneln in Struktur und Material den vormongolischen Festungsanlagen in Choresm, etwa Zamakhshar, Uly-Guldursun und Kovat-Kala. In diesen Anlagen wurde ein doppeltes Verteidigungssystem mit Hauptmauer und vorgelagerter Brustwehr mit Türmchen nachgewiesen – ein System, das offenbar auch in Chiwa Anwendung fand.
Diese Funde belegen, dass Chiwa bereits im 10. bis 12. Jahrhundert eine hochentwickelte, mehrschichtige Verteidigungsarchitektur besaß. Die polygonalen Türme von Ichan Qal‘a sind somit nicht nur Relikte vergangener Epochen, sondern ein Fenster in die komplexe Festungsbaukunst Mittelasiens.
Stadtbild und bedeutende Baudenkmäler
Innerhalb der Stadtmauern konzentriert sich eine große Zahl historischer Gebäude entlang der Hauptachse. Im Osten, unmittelbar neben dem Palvan-Darwaza-Tor, befinden sich die Medrese Allakuli-Khan, ein überdachter Basar (Tim) und der Allakuli-Khan Palast (Tash-Hauli). Südlich davon liegen die Ak-Moschee und die historischen Bäder von Anushakh. Das Minarett der Islam-Khoja erhebt sich südwestlich, flankiert von einer kleinen Medrese.
Auf dem Weg nach Westen finden sich weitere bedeutende Bauwerke: das mächtige Minarett und die Dschuma-Moschee, das Mausoleum Pahlavan Mahmud mit seiner markanten türkisfarbenen Kuppel, sowie die benachbarte Medrese Shirgazi-Khan.
Ganz im Westen, am Ata-Darwaza-Tor, liegt die historische Zitadelle Kunya-Ark – einst Regierungssitz des Khans – mit der benachbarten zweistöckigen Medrese Muhammad-Amin-Khan und dem monumentalen, unvollendeten Kalta-Minar-Minarett.
Ein lebendiges Monument urbaner und architektonischer Kultur
Ichan Qal‘a ist weit mehr als ein museales Stadtensemble: Es ist ein lebendiges Denkmal zentralasiatischer Stadt- und Verteidigungsgeschichte. Seine Struktur dokumentiert ein über Jahrhunderte gewachsenes urbanes System mit ausgefeilter Wehrarchitektur, bedeutenden religiösen und zivilen Bauwerken sowie einer Raumorganisation, die das Alltagsleben ebenso wie repräsentative Herrschaftsformen widerspiegelt. In seiner Geschlossenheit und Authentizität gehört Ichan Qal‘a zu den bedeutendsten historischen Stadtanlagen der islamischen Welt und verdient als solches höchste Aufmerksamkeit und Schutz.