Chiwa - Komplex Atadschan Tura
Der Atadschan Tura Komplex in Chiwa: Politisches Zeugnis, religiöses Zentrum und kulturelles Erbe der Spätzeit des Khanats
Im Herzen der Altstadt von Chiwa, innerhalb der Stadtmauern der Ichan Qal‘a, erhebt sich der Atadschan-Tura-Komplex – ein architektonisch, politisch und kulturell bedeutsames Ensemble, das zwischen 1893 und 1899 errichtet wurde. Der Namensgeber, Atadschan Tura, war der jüngere Bruder von Sayid Muhammad Rahim, dem letzten unabhängigen Khan von Chiwa, und spielte in einer politisch überaus heiklen Übergangsphase eine zentrale Rolle.
Atadschan Tura ist nicht nur als Bauherr dieses Komplexes in Erinnerung geblieben, sondern auch als eine Schlüsselfigur der turbulenten Jahre nach der russischen Invasion des Khanats Chiwa im Jahr 1873. In einer dramatischen Geste ernannte die lokale Elite ihn zum Interims-Khan, um den Kontakt zwischen der Bevölkerung und den vorrückenden russischen Truppen zu vermitteln. Diese Ernennung war jedoch rein symbolisch und diente vorrangig der Stabilisierung der Lage im Sinne der neuen Machthaber.
Am 1. Juni 1873 verfasste Atadschan Tura auf ausdrückliches Bitten des Generalgouverneurs von Turkestan, Konstantin Petrowitsch von Kaufman, ein offizielles Schreiben an seinen Bruder Sayid Muhammad Rahim, der sich zu diesem Zeitpunkt ins Exil begeben hatte. Darin forderte er ihn auf, in die Hauptstadt zurückzukehren und seine Herrschaft unter russischer Oberaufsicht wieder aufzunehmen. Dieses politische Manöver ermöglichte eine scheinbare Rückkehr zur alten Ordnung, obwohl der am 12. August desselben Jahres unterzeichnete Vertrag von Gandymyan die faktische Souveränität des Khanats aufhob und es endgültig in das Einflussgebiet des Russischen Reiches integrierte.
Nach der Rückkehr seines Bruders und der Einsetzung russischer Verwaltungsstrukturen zog sich Atadschan Tura aus der Politik zurück. Seine verbleibenden Lebensjahre widmete er dem religiösen, sozialen und kulturellen Aufbau Chiwas, wobei der nach ihm benannte Baukomplex sein bedeutendstes Vermächtnis darstellt. Der Atadschan-Tura-Komplex wurde nicht als rein religiöse Stätte konzipiert, sondern als multifunktionale Anlage mit geistlichen, bildungsbezogenen, hygienischen und sozialen Komponenten – Ausdruck einer islamisch geprägten Idealvorstellung städtischer Lebensführung.
Der architektonische Komplex besteht aus fünf zentralen Gebäudeteilen: einer Medrese, einer Sommermoschee, einer Wintermoschee, einem Hamam (Badehaus) sowie einer Grundschule (Maktab). Die Kombination dieser Bauelemente in einer in sich geschlossenen Struktur veranschaulicht das harmonische Zusammenwirken religiöser Bildung, praktischer Lebensführung und ritueller Praxis. Dieses Ideal entspricht dem spätislamischen städtebaulichen Denken in Zentralasien und spiegelt eine gesellschaftliche Haltung wider, die das Individuum in einem Netzwerk von Religion, Wissen und Körperpflege eingebettet sieht.
Die Medrese des Komplexes diente als religiöse Hochschule, in der klassische Disziplinen wie Tafsir (Koranexegese), Fiqh (islamisches Recht), Hadithwissenschaften, arabische Grammatik, Logik und Poetik unterrichtet wurden. Die Architektur folgt einem schlichten, funktionalen Stil mit einem rechteckigen Innenhof, um den sich zweigeschossige Hudschras (Schülerzellen) gruppieren. In ihrer gestalterischen Zurückhaltung verweist die Medrese auf den zunehmenden Pragmatismus der späten Khanatszeit, in der Repräsentation zunehmend hinter funktionale Effizienz zurücktrat.
Die Sommermoschee ist ein offener, luftiger Bau mit geschnitzten Holzsäulen und fein gearbeiteten Kapitellen, die unter einem weit ausladenden Dach Schutz vor der sengenden Sonne bieten. Sie diente während der heißen Monate als Versammlungs- und Gebetsort und folgt damit einer in Zentralasien verbreiteten Bauweise für saisonale Moscheen. Im Kontrast dazu steht die Wintermoschee, ein geschlossener, massiv gemauerter Kuppelbau mit guter Wärmespeicherung und dicker Außenwandung. Ihre kompakte Architektur ermöglichte Gebete auch bei klirrender Kälte, was für die Bevölkerung von Chiwa, wo die Winter durchaus streng sein konnten, von großer praktischer Bedeutung war.
Der Hamam des Komplexes war nicht nur ein Ort der Körperpflege, sondern auch sozialer Begegnung und ritueller Reinigung. Seine Räume gliedern sich in klassische Temperaturzonen: Apodyterium (Umkleide), Tepidarium (lauwarmes Bad), Caldarium (Heißbad) und Frigidarium (Kaltbad). Beheizt wurde der Hamam durch ein Hypokaust-System mit unterirdischen Feuerkanälen, das eine gleichmäßige Erwärmung von Böden und Wänden ermöglichte. Die handwerkliche Ausführung war auf Langlebigkeit und Funktionalität ausgelegt, wobei Stuck- und Ziegeldekorationen sparsam, aber stilvoll eingesetzt wurden.
Die Grundschule (Maktab) schließlich erfüllte eine wichtige Funktion in der Alphabetisierung und religiösen Grundbildung der Jugend. Dort lernten die Kinder das arabische Alphabet, rezitierten den Koran und wurden in ethischen Grundsätzen unterwiesen – ein Bildungskonzept, das eng mit der islamischen Gemeindestruktur verbunden war.
In baulicher Hinsicht ist der Atadschan-Tura-Komplex ein Paradebeispiel für die Spätphase der Choresm-Architektur. Dominierend ist die Verwendung gebrannter Lehmziegel, ergänzt durch dekorative Elemente aus Gipsstuck, feine Ziegelornamente und spärliche, gezielt eingesetzte Fayence in den Eingangsbereichen. Besonders hervorzuheben sind die kunstvoll geschnitzten Holzsäulen in der Sommermoschee, die zu den besten Beispielen der traditionellen Holzkunst Chiwas zählen.
Nach dem Ende der Sowjetzeit wurde der Komplex umfassend restauriert und seiner heutigen Nutzung als Zentrum für Volkskunst und traditionelles Handwerk zugeführt. In den ehemaligen Hudschras und Funktionsräumen sind heute Werkstätten und Ausstellungsräume untergebracht, in denen lokale Kunsthandwerker ihre Fertigkeiten in Textilgestaltung, Holzschnitzerei, Keramik, Miniaturmalerei und Metallverarbeitung präsentieren. Besucher können nicht nur die Werkstücke bestaunen, sondern auch die Entstehung der Objekte direkt mitverfolgen – ein Konzept, das traditionelles Erbe lebendig erhält und weiterträgt.
Diese Transformation zu einem Kultur- und Handwerkszentrum folgt dem humanistisch geprägten Geist des Gründers. Atadschan Tura verstand religiöse Praxis, Bildung und Alltagskultur nicht als getrennte Sphären, sondern als zusammengehörige Elemente eines gelebten Islam. Der heutige Atadschan-Tura-Komplex bewahrt dieses integrative Verständnis und verleiht dem Ort eine fortdauernde Relevanz als Ort der Begegnung, der Reflexion und des kreativen Ausdrucks.
Insgesamt ist der Atadschan-Tura-Komplex nicht nur ein herausragendes Denkmal spätkhanatlicher Baukunst, sondern zugleich ein Symbol für die Transformation einer Gesellschaft zwischen Tradition und kolonialer Neuordnung. Er markiert das Ende einer politischen Ära, bewahrt aber zugleich das kulturelle Selbstverständnis eines Volkes, das seine Identität auch unter fremder Oberherrschaft zu wahren wusste. In seiner architektonischen Gestaltung, historischen Bedeutung und heutigen Funktion verkörpert der Komplex einen seltenen Glücksfall der Kontinuität von Geschichte, Glauben und Kultur im Herzen Chiwas.