Chiwa - Islam Chodscha Minarett
Das Islam Chodscha Minarett in Chiwa – Symbol architektonischer Meisterschaft und geistiger Erneuerung
Das Islam Chodscha Minarett erhebt sich als markantes Wahrzeichen über die Silhouette von Chiwa und ist untrennbar mit dem historischen, kulturellen und politischen Erbe des späten Khanats verbunden. Es wurde 1908 unter der Ägide des Oberwesirs Islam Chodscha erbaut; der gesamte Gebäudekomplex mit Medrese und Minarett war im Jahr 1910 vollendet. Der Name dieses Komplexes erinnert nicht nur an den Auftraggeber, sondern an eine der visionärsten Persönlichkeiten des frühen 20. Jahrhunderts in Zentralasien – einen Mann, der sich mit Mut, Bildung und strategischem Weitblick dem Wandel verschrieb und dafür mit dem Leben bezahlte.
Architektur zwischen Tradition und Moderne
Mit einer Höhe von 56,6 Metern und einem Basisdurchmesser von 9,5 Metern ist das Islam-Chodscha-Minarett das höchste Minarett von Chiwa und überragt sämtliche Bauwerke innerhalb der ummauerten Altstadt Ichan Qal’a. Die schlanke, sich zur Spitze hin elegant verjüngende Silhouette orientiert sich an den architektonischen Idealen des 14. Jahrhunderts und nimmt insbesondere Bezug auf die Minarette von Kunya-Urgench, einer der kulturellen Wiegen des mittelalterlichen Choresm.
Das Minarett ist nicht nur ein religiöses Bauwerk, sondern auch ein Meisterstück spätklassischer Zentralasiatischer Baukunst. Es kombiniert rustikales, unglasiertes Ziegelmauerwerk mit dekorativen Zonen aus glasierten Keramikfliesen in türkisfarbenen und himmelblauen Tönen. Diese Bänder gliedern den Schaft horizontal, verleihen ihm eine visuelle Rhythmik und unterstreichen seine vertikale Dynamik. Der Ziegelkörper des Minaretts ruht auf einem massiven Fundament, das auf das lehmig-sandige Terrain von Chiwa Rücksicht nimmt. Das Minarett war ursprünglich auch als Aussichtsturm konzipiert, von dem aus man einen weiten Blick über die Dächer der Altstadt, die Oasenlandschaft von Choresm und die dahinter liegende Wüste genießen konnte.
Der angeschlossene Bau der Medrese Islam Chodscha folgt einem zweigeschossigen Typus mit traditioneller Hofanlage. Im Gegensatz zu älteren Medresen, die primär auf theologische Studien konzentriert waren, sollte diese Lehranstalt ein Zentrum für moderne Wissenschaft und Weltwissen sein. Ihre nüchterne, aber klare Gliederung und der gezielte Einsatz von Farbe und Ornamentik spiegeln sowohl den ästhetischen wie auch ideologischen Anspruch ihres Gründers wider.
Islam Chodscha – Reformer in einer Zeit des Umbruchs
Islam Chodscha, der Namensgeber des Minaretts, war nicht nur Oberwesir am Hof des Khans von Chiwa, sondern auch Schwiegervater des regierenden Khan Isfandiyar. Als einer der gebildetsten Männer seiner Zeit hatte er wiederholt das Russische Kaiserreich besucht, unter anderem die Hauptstadt St. Petersburg, und war mit den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen seiner Epoche bestens vertraut. In einer Zeit, in der das Khanat zunehmend unter russischem Einfluss stand, erkannte Islam Chodscha, dass ein bloßes Festhalten an traditionellen Strukturen den Untergang des Landes bedeuten würde.
Er setzte sich für eine behutsame, aber umfassende Reform der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung ein. Auf seine Initiative hin wurden zahlreiche Modernisierungsprojekte ins Leben gerufen: eine Baumwollentkernungsfabrik, ein staatliches Krankenhaus, eine Apotheke, sowie ein Post- und Telegrafenamt – Einrichtungen, die bis dahin im Khanat Chiwa unbekannt waren. Besonders hervorzuheben ist seine Gründung der ersten säkularen Schule nach europäischem Vorbild, in der neben islamischen Fächern auch Mathematik, Chemie, Physik und Geographie gelehrt wurden – ein revolutionärer Schritt, der vielen jungen Menschen neue Bildungswege eröffnete.
Zudem setzte sich Islam Chodscha für die Planung und den Bau einer Eisenbahnlinie ein, die das Khanat enger mit Russland verbinden sollte. Sein Ziel war die wirtschaftliche Öffnung und infrastrukturelle Einbindung Choresms in den sich rasant entwickelnden eurasiatischen Raum.
Intrigen, Opposition und tragisches Ende
Trotz seiner Verdienste und Erfolge war Islam Chodscha ein einsamer Reformer inmitten eines konservativen Umfelds. Der religiöse Klerus und der traditionalistische Adel betrachteten seine Politik mit tiefem Misstrauen und sahen in seinem Kurs eine Bedrohung für die bestehende Machtbalance. Besonders seine Versuche, dem Bildungswesen eine säkulare Grundlage zu geben, stießen auf erbitterten Widerstand.
Die konservativen Kräfte am Hof begannen schließlich, Khan Isfandiyar gegen seinen eigenen Schwiegervater aufzubringen. Sie nährten die Angst, Islam Chodscha wolle die Macht im Staat an sich reißen oder das Khanat einem fremden Einfluss unterwerfen. Intrigen, Gerüchte und gezielte Verleumdungen gipfelten in einem politischen Mord: Eines Nachts wurde Islam Chodscha auf dem Heimweg in seiner Kutsche überfallen und von mehreren Männern brutal erstochen. Trotz seiner hohen Stellung unterblieb jede ernsthafte Untersuchung – der Khan schwieg, und das Reformwerk seines Wesirs blieb unvollendet.
Symbolik und Bedeutung bis heute
Das Islam-Chodscha-Minarett ist nicht nur architektonisch ein Meisterwerk, sondern auch ein stummer Zeuge der intellektuellen und politischen Spannungen im späten Khanat von Chiwa. Es markiert die Schwelle zwischen Tradition und Moderne, zwischen mittelalterlicher Kultur und dem Aufbruch in eine neue Zeit. Die Kombination aus schlanker Vertikale und raffinierter Ornamentik macht es zu einem visuellen Fixpunkt der Stadt, der aus fast jedem Winkel Ichan Qal’as zu sehen ist.
Im Kontext der städtischen Raumordnung steht das Minarett in unmittelbarer Nähe zu anderen bedeutenden Monumenten wie der Juma-Moschee, dem Palast Tash-Hauli und dem Tor Palvan-Darwaza. Gemeinsam mit der Medrese bildet es ein architektonisches Ensemble, das sowohl religiöse als auch weltliche Bildung verkörperte – ein Konzept, das in Zentralasien nur selten in dieser Klarheit verwirklicht wurde.
Heute gehört das Islam-Chodscha-Minarett zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Usbekistan und ist Teil des UNESCO-Weltkulturerbes der Altstadt von Chiwa. Es zieht jährlich tausende Besucher an, die nicht nur seine Schönheit bewundern, sondern auch den dramatischen historischen Kontext seines Entstehens kennenlernen möchten. In einer Zeit, in der kulturelle Identität und historische Kontinuität wieder stärker in den Fokus rücken, gewinnt das Minarett als Symbol des zivilisatorischen Aufbruchs und der Bildungsreform eine neue, zeitlose Relevanz.