Chiwa - Kalta Minor
Das Kalta Minor Minarett in Chiwa – Monument einer unterbrochenen Vision
Im Herzen der ummauerten Altstadt von Chiwa, Ichan Qal’a, erhebt sich eines der auffälligsten und symbolträchtigsten Bauwerke Zentralasiens: das Kalta-Minor-Minarett. Dieses unvollendete Minarett, das gleichwohl zu den bekanntesten Wahrzeichen Chiwas zählt, vereint in einzigartiger Weise architektonische Kühnheit, politische Geschichte, persönliche Tragik und legendäre Überlieferung zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk islamischer Baukultur des 19. Jahrhunderts.
Monumentaler Entwurf mit imperialem Anspruch
Das Kalta Minor – wörtlich übersetzt „kurzes Minarett“ – wurde im Jahr 1853 unter der Herrschaft von Muhammad Aminkhan (reg. 1851–1855) in Auftrag gegeben. Der Khan, eine ambitionierte Herrschergestalt mit strategischem Weitblick und einem ausgeprägten Gespür für repräsentative Architektur, ließ den Bau in unmittelbarer Nähe seiner gleichnamigen Medrese beginnen. Geplant war ein Minarett mit einer Höhe von über 100 Metern – ein in seiner Zeit beispielloses Projekt. Wäre das Bauwerk vollendet worden, hätte es nicht nur alle bestehenden Minarette der islamischen Welt überragt, sondern wäre zum höchsten islamischen Turmbau der Geschichte avanciert. Zum Vergleich: Das weltberühmte Qutb Minar in Delhi, das höchste erhaltene Minarett weltweit, erreicht „nur“ 72,5 Meter.
Architektonisches Charakteristikum und ästhetischer Reiz
Das Kalta Minor wurde nur bis zu einer Höhe von 29 Metern fertiggestellt, besitzt jedoch mit 14,5 Metern einen ungewöhnlich großen Durchmesser an der Basis. Diese disproportional wirkende Form – eine fast zylindrische, massige Silhouette – verleiht dem Minarett eine monumentale Präsenz, die durch die intensive, farbenprächtige Majolika-Verkleidung zusätzlich betont wird. Besonders charakteristisch ist die durchgehende Bekleidung mit grün-blauen, türkisfarbenen und weißen Keramikfliesen, die das Minarett bei Sonnenlicht in lebendigem Glanz erstrahlen lassen. Im Gegensatz zu den sonst eher vertikal strukturierten Minaretten Zentralasiens erscheint das Kalta Minor wie ein architektonischer Monolith, der seine Wirkung aus der Spannung zwischen Unvollendetheit und Überdimensionierung schöpft.
Der Zugang zur Spitze des Minaretts erfolgt über eine hölzerne Wendeltreppe, die von einem Zwischengeschoss der benachbarten Medrese ausgeht. Diese Treppe wurde im Laufe der Jahrhunderte mehrfach restauriert, zuletzt im Rahmen umfangreicher Restaurierungsmaßnahmen anlässlich des 2500-jährigen Stadtjubiläums von Chiwa im Jahr 1997.
Majolika-Inschriften als poetisches Zeugnis
Im Zuge der genannten Restaurierung rekonstruierte der renommierte Majolika-Meister Rustam Tahirov die im Laufe der Zeit verloren gegangenen persischsprachigen Inschriften im oberen Bereich des Minaretts. Diese loben in blumiger Sprache die Pracht des Bauwerks und erheben es symbolisch zum Zentrum der Weltarchitektur:
„Es wurde ein hohes Minarett errichtet, das der menschlichen Seele Freude bereitet. So etwas hat der Himmel noch nicht gesehen. Seine Herrlichkeit hat die Emire der Erde erreicht. Seine Seiten sind frei von Fehlern und Unzulänglichkeiten […] Es ist zu einer Art Säule des Himmels geworden, die der Verstand nicht begreifen kann.“
Der Dichter Muhammad Reza Agachi gab dem Minarett den poetischen Namen „Die Endlose Säule des Himmels“, erbaut im Jahr 1271 der Hidschra (entspricht 1855).
Ein abruptes Ende: Tod des Stifters und Abbruch der Bauarbeiten
Die Bauarbeiten am Kalta Minor wurden jäh unterbrochen, als Muhammad Aminkhan 1855 während eines Feldzugs gegen turkmenische Stämme in Nordiran ums Leben kam. Wie Mullah Alim Makhdum Hoji in seinem Werk „Geschichte Turkestans“ berichtet, fiel der Khan am zweiten Montag des Monats Jumadul Okhir in der Schlacht bei Qonlitepa. Sein Tod erfolgte durch die Hand turkmenischer Kämpfer unter Niyazkhan ibn Urazkhan Serakhsi. Der Leichnam des Khans wurde enthauptet; sein Haupt mitsamt Krone und Insignien dem persischen Schah überbracht.
Obwohl Muhammad Aminkhan als treuer Vasall galt, missbilligte der Schah diese Tat und ließ dem getöteten Herrscher posthum Respekt zollen. In Teheran errichtete man ein Mausoleum in der Nähe des Haupttores, wo der Kopf des Khans mit militärischen Ehren beigesetzt wurde – begleitet von Korangebeten und Almosenspenden.
Der Tod des Khans bedeutete das abrupte Ende eines ambitionierten Bauprojekts. Ohne seinen charismatischen Auftraggeber wurde der Bau nicht weitergeführt, das unvollendete Minarett aber als Mahnmal eines gescheiterten architektonischen Traums bewahrt.
Der Khan als Herrscherfigur: Reformer, Krieger, Gerechtigkeitsfreund
Muhammad Aminkhan war nicht nur ein ambitionierter Bauherr, sondern auch ein hochangesehener politischer Akteur. Zeitgenössische Quellen, darunter der persische Gesandte Mirza Rizakulihan Sherozi Lalabash, schildern ihn als gottesfürchtigen, gerechten und volksnahen Herrscher. Seine Regentschaft war von innerer Ordnung und wirtschaftlicher Stabilität geprägt: Die Preise waren niedrig, die Ernten reichlich, die Infrastruktur ausgebaut. Jeder Bauer erhielt ein Stück Land (Tanap), Reiter wurden mit Pferden und Lasttieren ausgestattet, Verluste ersetzt.
Die Justiz war gut organisiert: Der Khan selbst urteilte in weltlichen Streitfällen, während religiöse Angelegenheiten dem Ober-Qozi unterstanden. Diese funktionale Gewaltenteilung galt als fortschrittlich für die damalige Zeit.
Seine militärische Organisation war trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit durch Effizienz und Disziplin geprägt. Der Verlust von 32 Offizieren in der besagten Schlacht bei Qonlitepa – darunter hochrangige Würdenträger wie Bekchan Divanbegi oder Khudayarbiy – war ein tiefer Einschnitt in die militärische Führungselite des Khanats.
Mythen und Legenden um das Kalta Minor
Rund um das Kalta Minor ranken sich zahlreiche Legenden, die bis heute in der mündlichen Tradition Chiwas weiterleben. Eine der bekanntesten besagt, dass Muhammad Aminkhan beabsichtigte, ein Minarett zu errichten, von dem aus man bis nach Buchara sehen könne. Als der Emir von Buchara davon erfuhr, bot er dem Architekten große Reichtümer an, wenn er nach der Fertigstellung auch für ihn ein solches Minarett errichte. Der Khan, der die Exklusivität seines Projekts wahren wollte, plante daraufhin, den Baumeister nach Fertigstellung hinabstürzen zu lassen. Der Architekt jedoch erfuhr davon – und floh mithilfe eines Seils oder mit eigens konstruierten Flügeln vom unfertigen Turm.
Solche Legenden sind Ausdruck der mystischen Aura, die das Bauwerk umgibt. Sie verschmelzen mit historischen Tatsachen zu einer Erzählung, die dem Kalta Minor ein fast mythisches Eigenleben verleiht.
Im Volksmund trägt das Bauwerk bis heute Ehrentitel wie Kok Minar („Blaues Minarett“) oder Ulli Minar („Großes Minarett“) – Ausdruck der tiefen kulturellen Verankerung des Monuments im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung.
Wandel von Funktion und Bedeutung
Die benachbarte Medrese Muhammad Aminkhans, ursprünglich Zentrum islamischer Gelehrsamkeit, wurde 1979 aufwendig restauriert und in ein Hotel umgewandelt. Diese Umnutzung dokumentiert die Transformation historischer Architektur in der modernen Tourismuslandschaft Usbekistans – ein Prozess, der zugleich Bewahrung und kommerzielle Nutzung umfasst.
Das Kalta Minor selbst steht heute als symbolisches Fragment einer unterbrochenen architektonischen Vision inmitten der UNESCO-geschützten Altstadt von Chiwa. Es erinnert an die kühnen Ambitionen eines Herrschers, an kulturellen Wandel, imperiale Konkurrenz, tragisches Scheitern – und ist gerade in seiner Unvollkommenheit ein Meisterwerk zentralasiatischer Baukunst.